In beratungsähnlichen Situationen zwischen Tür-und-Angel (T&A) oder in andere offene Settings können Menschen erreicht werden, die niemals ein klassisches Beratungsangebot wahrnehmen würden. Genau darin liegt ihr Potenzial – sie öffnen Türen zu Personengruppen, die durch formalisierte Strukturen nicht erreichbar wären.
Für Sozialarbeitende bedeutet das: Wer souverän in offenen Settings agiert, erweitert nicht nur seine Handlungsmöglichkeiten, sondern leistet einen entscheidenden Beitrag zur Niederschwelligkeit und Zugänglichkeit der Sozialen Arbeit. In diesem Artikel werden zentrale Bedingungen, Herausforderungen und Chancen dieser besonderen Form von Begegnung beleuchtet.
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Was ist ein offenes Setting in der Sozialen Arbeit?
Der Begriff wird in der Fachliteratur unterschiedlich gefasst. Buddrus beschreibt es in Moser et al. (1999) „als Setting, welches jederzeit betreten oder verlassen werden kann (…) ohne Sanktionen“ (S. 134). Wandeler (2010) verweist unter Bezugnahme auf Gieseke darauf, dass es „in offenen Situationen auf die wechselseitigen Handlungen der Handelnden ankomme, wie sich die Situation weiterentwickle“ (S. 294).
Die Arbeit in offenen Settings ist spannend, oft ambig und komplex. Beratungsähnliche Situationen im offenen Setting entstehen spontan, sind diffus, enden abrupt.
Beispiele sind kurze Gespräche im Jugendzentrum, Begegnungen im Quartiertreff, spontane Wortwechsel auf der Straße oder beiläufige Kontakte in sozialen Institutionen.
Warum sind offene Settings in der Sozialen Arbeit wichtig?
Obwohl T&A-Situationen in der Praxis häufig auftreten, sind sie wissenschaftlich bislang eher wenig erforscht (vgl. Unterkofler, 2024). Für Fachpersonen sind sie jedoch hochrelevant, da sie gleich mehrere Funktionen erfüllen:
- Niederschwelligkeit: Sie schaffen Zugänge für Menschen, die formelle Angebote meiden.
- Beziehungsaufbau: Erste Vertrauensebenen entstehen oft in kurzen, unverbindlichen Kontakten.
- Flexibilität: Offene Settings erlauben situatives Handeln, ohne dass starre Strukturen einengen.
- Chancenräume: Sie bieten Gelegenheitsstrukturen, die genutzt werden können – oder nicht (vgl. Hollstein & Knab, 2016).
Gerade für Menschen in schwierigen oder prekären Lebenslagen ist die Hürde, ein offizielles Beratungsangebot in Anspruch zu nehmen, oft zu hoch. Tür-und-Angel-Situationen senken diese Schwelle und machen Unterstützung zugänglich.
Allerdings sind offene Settings nicht nur Chancenräume, sondern auch komplexe Handlungsfelder, die hohe professionelle Flexibilität erfordern.
Herausforderungen
Die Arbeit in offenen Settings ist ambig, manchmal widersprüchlich. Beratungsähnliche Gespräche entstehen spontan, enden abrupt und laufen ohne klare Struktur. Für Sozialarbeitende ergeben sich mehrere Herausforderungen:
- Rollenunklarheit: Fachpersonen bewegen sich zwischen „anderen unter Gleichen“ und professioneller Distanz (Streck & Unterkofler, 2023).
- Grenzmanagement: Wie viel Beratung ist möglich, ohne die Niederschwelligkeit zu gefährden?
- Machtungleichgewicht: Professionelle vertreten Institutionen und haben Definitionsmacht – dies kann Beziehungen belasten.
- Unvorhersehbarkeit: Gespräche verlaufen unstrukturiert, Ziele entstehen erst im Prozess.
Die Rolle der Beziehung
Zentral bleibt: Soziale Arbeit basiert auf Beziehung und Vertrauen. Auch im offenen Setting gilt: Erst wenn Vertrauen vorhanden ist, können tiefere Gespräche oder weiterführende Hilfen entstehen.
Bemerkenswert ist: Aus Sicht der Adressat:innen ist weniger entscheidend, welche Fachperson gerade im Dienst ist. Entscheidend ist die Institution als Ganzes: Einmal gebildetes Vertrauen kann auf alle Rollenträger:innen im Kontext übergehen. Sozialarbeitende treten somit sowohl als ganze Person wie auch als professionelle Funktionsträger:innenauf.
Wie fördern Sozialarbeitende offene Settings?
Erfahrungen und Forschung zeigen mehrere zentrale Aspekte:
- Gelegenheitsstrukturen schaffen:
Situationen entstehen oft beiläufig – beim gemeinsamen Kochen, während einer Veranstaltung oder beim kurzen Wortwechsel. Solche Situationen können bewusst druch Gelegenheits-Strukturen initiiert und unterstützt werden. Ein attraktiver Ort, ein rascher Zugang, Unverbindlichkeit bei der Kontaktaufnahme, eine gewisse Intimität, sowie Rückzugsmöglichkeiten, sind unterstützend. Wichtig ist, ansprechbar zu sein, auch „im Schatten“ anderer Tätigkeiten (Unterkofler, 2024). - Rolle flexibel gestalten:
Professionelle müssen Rollenmuster je nach Situation anpassen. Mal genügt die Rolle als Gesprächspartner:in auf Augenhöhe, mal braucht es fachliche Expertise. Herausforderung ist, die Adressat:innen durch eine starke Rollenübernahe nicht «zu verscheuchen», sondern die Rolle genug vage zu belassen, um anschlussfähig zu sein. - Verbindlichkeitsgrade beachten:
Gespräche können abrupt enden oder sich vertiefen. Offene Settings funktionieren, wenn Professionelle die Unbestimmtheit zulassen und nicht vorschnell in eine formale Beratungsrolle wechseln. - Rahmenbedingungen sichern:
Rückzugsmöglichkeiten oder kleine Nischen im offenen Raum schaffen Vertrauen und Intimität, ohne formell zu wirken. - Einfach da sein:
Präsenz, Authentizität und Geduld sind entscheidend. Offene Settings leben vom wiederholten, unkomplizierten Kontakt.
Chancen
Offene Settings eröffnen Räume, die klassische Beratungsangebote nicht erreichen:
- Prävention: Durch frühzeitige Ansprache können Probleme erkannt werden, bevor sie eskalieren.
- Partizipation: Offene Settings bieten Möglichkeiten, Menschen in Entscheidungsprozesse einzubeziehen.
- Empowerment: Adressat:innen erleben Selbstwirksamkeit, wenn sie Kontakte eigenständig gestalten und Gespräche initiieren können.
Grenzen
Neben den Chancen gilt es, Grenzen klar zu benennen:
- Tiefe und Kontinuität sind begrenzt.
- Professionelle Selbstsorge ist notwendig, um nicht in Daueransprechbarkeit auszubrennen.
- Strukturelle Rahmenbedingungen (Räume, Ressourcen, Zeit) entscheiden maßgeblich über Gelingen oder Scheitern.
Fazit und Ausblick
Offene Settings sind kein „Zufallsprodukt“, sondern ein eigenständiges und wichtiges Feld Sozialer Arbeit. Sie schaffen niedrigschwellige Zugänge, eröffnen vertrauensvolle erste Kontakte und können Impulse für weiterführende Unterstützung geben. Richtig genutzt, stärken sie Beziehungen, fördern Vertrauen und ermöglichen, Menschen dort abzuholen, wo sie gerade stehen.
Sie verlangen von Fachpersonen hohe Flexibilität, Geduld und die Bereitschaft, Unbestimmtheit auszuhalten.
Zentral bleibt: Beziehung und Vertrauen sind auch hier die Grundlage. Wer es schafft, authentisch präsent zu sein, Gelegenheitsstrukturen zu erkennen, selbst zu schaffen, und situativ flexibel zu agieren, kann offene Settings zu wertvollen Räumen machen, in denen Menschen erreicht werden, die sonst für professionelle Soziale Arbeit unerreichbar bleiben würden.
Für die Zukunft bleibt eine doppelte Aufgabe: Einerseits die Praxis weiter zu professionalisieren, andererseits die wissenschaftliche Auseinandersetzung zu vertiefen, um Konzepte, Methoden und Gelingensbedingungen klarer zu beschreiben.
In diesem Artikel wird: Verbundenheit als Kern menschlicher Existenz: Impulse für die Soziale und Soziokulturelle Arbeit.
Literaturverzeichnis
- Buddrus, V. (1999). Offene Settings. In: Moser, H., Müller, B., Wettstein, H., & Willener, A. (Hrsg.), Soziokulturelle Animation: Grundlagen – Methoden – Praxisfelder (S. 134 ff.). Luzern: Verlag für Soziales und Kulturelles.
- Gieseke, W. (2001). Offene Bildungsprozesse. In: Arnold, R., & Schüßler, I. (Hrsg.), Erwachsenenpädagogik – Theorie, Praxis, Beruf (S. 179–190). Opladen: Leske + Budrich.
- Hollstein, B., & Knab, N. (2016). Gelegenheitsstrukturen sozialen Handelns. In: Stegbauer, C. (Hrsg.), Handbuch Netzwerkforschung (S. 103–115). Wiesbaden: Springer VS.
- Streck, B., & Unterkofler, M. (2023). Ambiguität und Beziehung in offenen Settings. Zeitschrift für Sozialpädagogik, 21(3), 245–260.
- Unterkofler, M. (2024). Offene Settings in der Sozialen Arbeit – zwischen Niederschwelligkeit und Professionalität. SozialAktuell, 56(1), 22–27.
- Wandeler, B. (Hrsg.). (2010). Soziokulturelle Animation: Professionelles Handeln zur Förderung von Partizipation und Zusammenleben. Luzern: Interact.
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