Die Verbundenheit ist unvermeidlich und stellt eine große Herausforderung dar, da sie so gestaltet sein muss, dass sie Kindern und Jugendlichen eine gute Grundlage für ihre Erziehung und Bildung bietet. Einerseits kann intuitive Elternschaft zu sehr guten Ergebnissen führen, andererseits kann eine liebevolle gute Absicht zu einem schweren Versagen führen.
In jedem Einzelfall ist es notwendig, elterliche Fürsorge, pädagogische Beratung und institutionelle und professionelle Unterstützung so zu kombinieren, dass die Erziehung weder eine fahrlässige Vernachlässigung des Kindes noch eine bequeme Übertragung der Verantwortung auf andere bedeutet.
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Das Ganze ist mehr als die Summe seiner Teile
„Das Ganze ist mehr als die Summe seiner Teile“ – mit diesem Satz brachte Aristoteles schon in der Antike zum Ausdruck, dass in der Verbindung etwas Neues, etwas Lebendiges entsteht. Genau diese Dynamik zeigt sich in Bildung und Lernen.
Bereits Sokrates beschrieb den Menschen als zutiefst soziales Wesen: Er sah in uns den „Drang zur Gemeinschaft“, weil Entwicklung nur in Verbindung mit anderen gelingt. Martin Buber formulierte es später so: „Der Mensch wird am Du zum Ich.“
Auch für uns als Lehrende und Lernbegleitende ist dies zentral: Wir initiieren Verbindungen zwischen Menschen, damit ganzheitliches Lernen entstehen kann. Oder, wie es Paul Geheeb prägnant ausdrückte: „Lernen tut jede:r für sich, jedoch nie allein.“ Bildung geschieht also in individueller Aneignung – aber immer im sozialen Geflecht von Beziehungen.
Wie das Ganze aus dem Blick geriet
Über lange Zeit war Bildung in Europa weniger institutionalisiert, weniger auf Fachbereiche aufgeteilt, als wir es heute kennen. Universalgelehrte wie Leonardo da Vinci verkörperten das Ideal, das Ganze im Blick zu behalten.
Warum verlagerte sich der Fokus? Gerald Hüther und Christoph Spannbauer erklären diese Entwicklung mit der Renaissance und der Aufklärung: Das Individuum erstarkte – in Abgrenzung zu religiösen und gesellschaftlichen Zwängen. Für Forschende war dies befreiend, denn Dogmen hatten wissenschaftliche Arbeit oft behindert oder sogar gefährlich gemacht.
In der Folge etablierte sich ein wissenschaftliches Paradigma: Komplexes wird aufgeteilt, isoliert untersucht, in Laborbedingungen reduziert. Pantoffeltierchen, Ratten, einzelne chemische Prozesse – das Trennende war leichter zu beobachten als das Ganze. Mit zunehmender Spezialisierung entstanden Fachsprachen, Fachzeitschriften, Fachkongresse. Das große Ganze, die Zusammenhänge zwischen den Disziplinen, rückten in den Hintergrund.
Auch Carl Friedrich von Weizsäcker oder der Quantenphysiker Hans-Peter Dürr kritisierten, dass der Mensch sich lange über die Natur erheben wollte. Dieses Denken habe dazu geführt, dass wir uns selbst von der Natur und vom Lebendigen trennten – und damit Wesentliches aus dem Blick verloren.
Diese Entwicklung prägte auch die Bildung: Sie orientierte sich zunehmend an Fächern, Disziplinen und Abgrenzungen. Vermittlung wurde stärker linear, analytisch und fragmentiert.
Warum neue Wege nötig sind
Doch in einer hochgradig vernetzten, diversen und komplexen Welt reicht das Trennende allein nicht mehr aus. Routinen helfen in gewohnten Situationen – aber in Krisen, Umbrüchen oder globalen Herausforderungen brauchen wir Kooperation, Austausch und Verbundenheit.
Neue Bildungswege müssen daher die Vielfalt der Hintergründe, Erfahrungen und Kompetenzen der Lernenden einbeziehen und würdigen. Denn: Das Ganze ist mehr als die Summe seiner Teile. Bildung ist erfolgreicher, wenn sie Verbindungen sichtbar macht und nutzbar macht.
Lernen als Verbindung – von Synapsen bis Gesellschaft
Auf neurobiologischer Ebene bedeutet Lernen: Es entstehen neue Verbindungen zwischen Neuronen. Diese synaptischen Netzwerke speichern Erfahrungen und Kompetenzen.
Psychologisch gilt: Die humanistische Psychologie geht von einer Selbstverwirklichungstendenz aus – einer evolutionären Dynamik, die auf mehr Ordnung, Komplexität und Vernetzung zielt. Lernen heißt, vorhandenes Wissen mit Neuem zu verknüpfen, Talente auszubauen und durch Übung zu Kompetenzen zu formen.
So wie sich im Gehirn Netzwerke bilden, geschieht auch Bildung in sozialen Netzwerken: durch Austausch, Feedback, gemeinsames Handeln.
Konstruktivismus und Konnektivismus
Paul Watzlawick machte deutlich: Jede:r erschafft sich eine eigene Realität. Wir leben in „Bubbles“ unserer Wahrnehmungen und Deutungen. Kommunikation ist die Brücke, die diese Einsamkeit überwindet – weil wir durch Sprache, Gestik und Resonanz Verbindung herstellen.
Aus diesem konstruktivistischen Denken entwickelte sich der Konnektivismus (Siemens & Downes): Wissen entsteht nicht nur im individuellen Kopf, sondern vor allem in Netzwerken – zwischen Menschen, in Gemeinschaften, in digitalen Räumen. Lernen ist damit kein isolierter Vorgang, sondern ein sozialer Prozess.
- Motivation steigt, wenn Menschen eingebunden sind (Deci & Ryan, Selbstbestimmungstheorie).
- Wygotski zeigte, dass Lernen durch Interaktion effektiver wird: In Gesprächen nehmen Lernende neue Perspektiven wahr und müssen ihre eigenen Gedanken klären.
- Bowlby und die Bindungsforschung verdeutlichen: Vertrauensvolle Beziehungen schaffen ein Umfeld, in dem Fehler erlaubt sind und Fragen gestellt werden können – eine Voraussetzung für angstfreies Lernen.
In all dem zeigt sich: Bildung braucht Verbundenheit.
Kommunikation als Antwort auf Komplexität
Der Systemtheoretiker George Miller stellte fest: „Kommunikation ist die Antwort auf Komplexität.“ Wo Situationen vielschichtig sind, hilft kein simples Abarbeiten, sondern der Austausch. Genau hier setzt Bildung an: Sie schafft Räume, in denen unterschiedliche Sichtweisen zusammenkommen, wo Dialog komplexe Zusammenhänge verstehbar macht.
Bildung ist nicht das reine Reproduzieren von Fakten, sondern ein gemeinsames Verhandeln von Sinn.
Bildung neu denken
Hans-Peter Dürr betonte: Um verstehen zu können, ist es nicht hilfreich, zu separieren und zu isolieren. Vielmehr braucht es einen ganzheitlichen Blick.
Gerald Hüther und Christoph Spannbauer schließen daran an: Mit der alten Herangehensweise – Trennung, Spezialisierung, Hierarchie – lassen sich die aktuellen Herausforderungen nicht mehr bewältigen. Wir brauchen Bildung, die Verbindung, Kreativität und Kooperation ins Zentrum rückt.
Konkrete Optionen für Lernende und Lehrende
- Dialogorientiertes Lernen: Wissen im Austausch entwickeln, nicht im Monolog vermitteln.
- Netzwerkdenken fördern: Lernende ermutigen, Bezüge zwischen Fächern und Disziplinen zu sehen.
- Kooperation statt Konkurrenz: Projekte so gestalten, dass Teams voneinander profitieren.
- Fehlerfreundlichkeit ermöglichen: Fehler als Lernchancen verstehen.
- Narrative teilen: Geschichten und Erfahrungen nutzen, um Verbindungen herzustellen.
- Natur als Lehrmeisterin: Verbundenheit nicht nur zwischen Menschen, sondern auch mit ökologischen Zusammenhängen bewusst machen.
Fazit: Lernen für sich – aber nie ohne die anderen
„Lernen tut jede:r für sich. Aber nie allein.“ Dieser Satz bringt auf den Punkt, was Bildung im Kern ausmacht: Sie ist immer eingebettet in soziale, kulturelle und ökologische Kontexte.
Verbundenheit ist nicht nur ein Ziel, sondern die Voraussetzung für Bildung. Sie ermöglicht, das Ganze im Blick zu behalten – und nicht in Fragmenten steckenzubleiben.
In einer Welt voller Vernetzung, Komplexität und Unsicherheit brauchen wir Lernprozesse, die Austausch, Resonanz und Kooperation ins Zentrum stellen. Bildung gelingt dann, wenn sie nicht nur Wissen vermittelt, sondern Verbindungen schafft: zwischen Menschen, Disziplinen, Generationen – und zwischen Mensch und Natur.
Literaturverzeichnis
- Aristoteles (1995). Metaphysik. Hamburg: Meiner.
- Beck, U. (1986). Risikogesellschaft: Auf dem Weg in eine andere Moderne. Frankfurt am Main: Suhrkamp.
- Bowlby, J. (1988). A Secure Base: Parent-Child Attachment and Healthy Human Development. New York: Basic Books.
- Buber, M. (1995). Ich und Du. Stuttgart: Reclam. (Original 1923)
- Deci, E. L., & Ryan, R. M. (2000). Self-determination theory and the facilitation of intrinsic motivation. American Psychologist, 55(1), 68–78.
- Dürr, H.-P. (2012). Warum es ums Ganze geht: Neues Denken für eine Welt im Umbruch. München: Kösel.
- Geheeb, P. (1929). Zitat in: Ulmann, J. (Hg.). Paul Geheeb und die Odenwaldschule. Weinheim: Beltz.
- Hüther, G., & Spannbauer, C. (2012). Aufstand der Kinder: Wie wir die Zukunft verspielen. München: Kösel.
- Miller, G. (1956). The magical number seven, plus or minus two. Psychological Review, 63(2), 81–97.
- Siemens, G. (2005). Connectivism: A Learning Theory for the Digital Age. International Journal of Instructional Technology and Distance Learning, 2(1).
- Sokrates, zitiert nach: Platon (1991). Der Staat. Frankfurt am Main: Insel.
- Watzlawick, P., Beavin, J., & Jackson, D. (2011). Menschliche Kommunikation. Bern: Huber.
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